Samstag, 6. Februar 2016

In meiner Loseblattsammlung, Bergen Enkheim, Frankfurt

Ich habe es nie als Nachteil empfunden, Teile meiner Jugend als sogenannter Trainspotter verbracht zu haben. Meine Begeisterung für die Eisenbahn hatte, wie ich Jahre später bei der erkenntnisreichen Lektüre von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung erfuhr, ihre Motivation in einer großen Sehnsucht nach der Ferne, wie sie durch Züge und ihre exotischen Zugläufte repräsentiert wird. So gehörte z.B. der in dieser Hinsicht besonders attraktive Hellas-Express vom Piräus-Hafen in Athen nach Köln zu meinen Lieblingszügen, ich scheute die halbstündige Fahrt nach Mainz nicht, um den D-Zug, angezogen von einer nachtblauen Lokomotive der Baureihe 110 (die mit den traurigen runden Hundeaugen) in die Station einfahren zu sehen und während seines kurzen Aufenthalts zu inspizieren. Als erstes fiel mir der Geruch auf, den der Zug verströmte, ein staubiger, fremdartiger Geruch wie von Haarpomade und rohem Gemüse, in den sich auch noch eine Spur Weihrauch mischte. Die Wagen waren verdreckt von der über mehrere Tage und Nächte währenden Reise, und während des kurzen Aufenthalts war ein starkes Klopfen und Zischen zu hören, das wahrscheinlich auf die Bremsschläuche zurückzuführen war. Das ist aber nur eines von vielen Beispielen, wie die Eisenbahn mein Leben prägte. Zuhause angekommen, spielte ich den Hellas-Express auf der Modellbahn nach, nicht immer einfach, weil in seinen Abteilen keines der praktischen Faltblätter Ihr Zug-Begleiter auslag, in dem Stationen, An- und Abfahrtszeiten sowie die wichtigsten Anschlüsse unterwegs verzeichnet waren. Für seine Details musste ich das allgemeine Kursbuch konsultieren, jenes außerordentlich umfangreiche Kompendium sämtlicher Eisenbahnverbindungen in Deutschland und ganz Europa, das damals noch ausschliesslich im durch die Lackierung der Trans-Europa-Express Züge vertrauten Farbton Weinrot erhältlich war. Die Eisenbahn beeinflusste aber auch meine ästhetische Vorstellung von einer geglückten Zukunft. Massgeblich stilprägend für meine Imagination eines gelungenen Erwachsenen-Daseins war dabei ein Werbefolder zu dem gerade eingeführten Netz aus Intercity-Verbindungen. Darin sah man einen Geschäftsreisenden mit Schnurrbart und Lesebrille tiefenentspannt in einem jener Großraumwagen-Schalensessel ruhen, die zu den bequemsten Reisefauteuils zählten, die man sich damals vorstellen konnte. Sie waren mit gestreiften Samtbezügen und Weiß auf Weiß karierten Kopfkissen ausgestattet, und konnten, das war die Sensation, je nach Fahrtrichtung 180 Grad gedreht werden, was wegen der immer noch zahlreichen Sackbahnhöfe und Richtungsänderungen der Züge auch Sinn machte. Der Geschäftsreisende mit dem milden Lächeln in seinen Gesichtszügen las in der F.A.Z., und auf dem nächsten Bild, das seinen cognacfarbenen Aktenkoffer geöffnet in einem Abteilwagen zeigte, was der erfahrene Reisende an dem dunkelblauen Samtbezug der Kissenpolster zu erkennen vermag, war zu erkunden, was sonst noch zu seiner Grundausstattung zählte: Granny Smith Apfel, Taschenrechner (wahrscheinlich von Texas Instruments), Bleistift, Papiere, Kugelschreiber und ein wie der Koffer selbst aus Leder gefertigter Flachmann für einen stärkenden Schluck vor oder nach seinen Terminen (ich war mir damals nicht so sicher). Jedenfalls brannte sich das Bild dieser so gestalteten Existenz tief in mein Wunschdenken ein, und als ich den Folder neulich wiederfand, hat mich nicht nur der Anblick des eleganten Weinrot-Beigen Intercitys, der auf dem ersten Bild durch ein frühlingsgrünes Deutschland rollt, mit tiefer Freude erfüllt, sondern das gesamte moodboard der versponnenen Ideen meiner Adoleszenz erstand vor mir, wie es bei Daft Punk heißt: "like the legend of the Phoenix".

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